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Zum Einstieg in die Kanonistik


Sie kommen zum ersten mal auf unsere Seiten? Dann plagt Sie eventuell die Neugier, was denn nun eigentlich kanonisches Recht, Kanonistik sei. Hat es gar mit Kanonen zu tun, wie der Titel eines Buches, "Die irische Kanonensammlung" von Hermann Wasserschleben* nahe legen könnte ? Durchaus nicht, denn Kanon heißt ursprünglich Regel, Richtschnur, was noch Isidor von Sevilla † 636 wusste, und uns in seinem "Lexikon" überlieferte. Denken Sie nur an die Kunstgeschichte, wo man den Ausdruck heute noch in diesem Sinn gebraucht - Fächerkanon, Formenkanon etc. Dann entwickelt sich Kanon immer mehr zu einem juristischen Begriff des kirchlichen Bereichs, der dort letztlich alle Normen erfassen kann: Synodalbeschlüsse, weltliche Gesetze mit kirchenrechtlicher Geltung, päpstliche Briefe - so verwendet Gratian um 1140 bereits Kanon. Nebenbei: Um die Verwechslung mit Kanonen auszuschließen, bildet man heute nur noch den Plural "Kanones". Die Wissenschaft von diesen Normen ist die "Kanonistik", der entsprechende Wissenschaftler ein "Kanonist", während ein "Kanoniker" ein Priester oder Prälat ist, der an einem bestimmten Kirchentypus Dienst leistet - und übrigens nebenher auch ein Kanonist sein kann; wobei seine Stelle auch Kanonikat genannt wird.

Und warum ist die Kanonistik heute noch wichtig ? Weil sich unser heutiges Recht in Europa historisch betrachtet im Wesentlichen aus zwei Quellen speist: Der kanonistischen und der legistischen (d.h. der mittelalterlichen römisch-rechtlichen) Tradition. Wenn Sie im deutschsprachigen Raum Rechtswissenschaft studieren, so studieren Sie Jura, also Rechte (Plural !), womit eben die Kanonistik und Legistik gemeint sind. Wenn Sie einen Prozess führen, egal ob im Privatrecht oder im öffentlichen Recht, folgen Sie bis heute den im römisch-kanonischen Recht entwickelten Verfahrensschritten, ebenso z.B. bei der Naturalrestitution nach § 249 BGB oder bei den zur Änderung des Grundgesetzes nötigen Mehrheiten usw. Diese Liste ließe sich fast beliebig verlängern und vertiefen, wobei derartige Traditionen nicht nur für den kontinentaleuropäischen, sondern - mit leichten Abstrichen - ebenso für den anglo-amerikanischen Rechtskreis gelten.

Mehr Interesse? Dann z.B. zur Site von Otto Vervaart

Literatur:

James Brundage, Medieval Canon Law, London ²1996; Jean Gaudemet, É;glise et Cité. Histoire du droit canonique, Paris 1994. Richard Helmholz, The Spirit of Classical Canon Law, Athens 1996; Herbert Kalb, Juristischer und Theologischer Diskurs und die Entstehung der Kanonistik als Rechtswissenschaft, öarr 47 (2000), 1-33. Peter Landau, Der Einfluß des kanonischen Rechts auf die europäische Rechtskultur. In: Europäische Rechts- und Verfassungsgeschichte. Ergebnisse und Perspektiven der Forschung, hg. Reiner Schulze, Schriften zur Europäischen Rechts- und Verfassungsgeschichte Bd.3, Berlin 1991, 39-57; ders., Die Bedeutung des kanonischen Rechts für die Entwicklung einheitlicher Rechtsprinzipien. In: Die Bedeutung des kanonischen Rechts für die Entwicklung einheitlicher Rechtsprinzipien, hg. Heinrich Scholler, Baden-Baden 1996, Arbeiten zur Rechtsvergleichung, Schriftenreihe der Gesellschaft für Rechtsvergleichung, Bd. 177, 23-47, ders., Die Anfänge der Unterscheidung von Ius Publicum und Ius Privatum in der Geschichte des Kanonischen Rechts. In: Das Öffentliche und Private in der Vormoderne, hgg. Gert Melville, Peter v. Moos, Norm und Struktur Bd. 10, Köln 1998, 629 - 638;

 

*Ach so, der Titel von Wasserschleben ? Hermann Wasserschleben, Die irische Kanonensammlung, Leipzig ²1885 (ND Aalen 1966). Und wenn Sie den aktuellen Stand der Forschung zur Collectio Hibernensis, so heißt die irische Sammlung nämlich auch, kennen lernen wollen, dann nehmen Sie doch einfach das Buch von Lotte Kéry, Canonical Collections of the Early Middle Ages, Washington 1999 zur Hand, da lernen Sie Seite 73-80 die handschriftliche Überlieferung und Literatur zur Hibernensis kennen. Sie arbeiten nicht mehr mit Büchern? Auf der CD-ROM Kanones 2 von Linda Fowler-Magerl erfahren Sie ebenfalls etwas zur Collectio Hibernensis. 

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Home - Jörg Müller,  Stand: Februar 2004