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Stephan Kuttners wissenschaftliches Werk

von Peter Landau


 

Publikationsliste Stephan Kuttner

 

Erstveröffentlicht in der RIDC, 7, 1996, 13-20, als wissenschaftlicher Nachruf

 

Stephan Kuttners wissenschaftliches Werk

 

Mit dem Tode Stephan Kuttners am 12. August 1996 in Berkeley endete das Leben eines Gelehrten von säkularer Bedeutung, der uns in seinem mehr als sechzigjährigen wissenschaftlichen Schaffen ein gewaltiges rechtsgeschichtliches Werk hinterlassen hat. Es war nach einer strafrechtssystematischen und strafrechtshistorischen Dissertation, die der junge Assistent an der damals führenden Berliner juristischen Fakultät bei dem bekannten deutschen Strafrechtler Eduard Kohlrausch geschrieben hatte, von Anfang an der Geschichte des kanonischen Rechts gewidmet, das Kuttner zuerst im rechtshistorischen Seminar von Ulrich Stutz kennengelernt hatte. Aus einem Seminarreferat erwuchs seine erste kanonistische Veröffentlichung über ein Hauptwerk der Bologneser Dekretistik des frühen 13. Jahrhunderts, die Glossa Palatina, ein komplexes Gebilde, das der erst vierundzwanzigjährige Gelehrte in einer Handschrift der Vatikanischen Bibliothek entdeckte und zunächst als Dekretsumme des Johannes Teutonicus und Vorarbeit zu dessen Glossa ordinaria einordnete. Seitdem hat Kuttner fast Jahr für Jahr Arbeiten zur historischen Kanonistik veröffentlicht - seine wohl letzte Publikation datiert aus dem Jahre 1994. Eine Bibliographie, die anlässlich der Verleihung des Ehrendoktorats der Lateranuniversität 1988 seine Veröffentlichungen verzeichnete, umfasst insgesamt neun Seiten; die wichtigsten Aufsätze wurden seit 1980 in vier umfangreichen Bänden zusammengefasst. Versuchen wir, uns sein wissenschaftliches Werk umrisshaft zu vergegenwärtigen.

 

Am Anfang stehen zwei monumentale Bücher des noch nicht Dreißigjährigen: die 'Kanonistische Schuldlehre' von 1935 und das 'Repertorium der Kanonistik' von 1937. Die 'Schuldlehre' erwuchs aus Kuttners früherem Interesse an der Strafrechtsgeschichte und stellte zum erstenmal die geistige Leistung der mittelalterlichen Kanonistik für die Grundbegriffe des Strafrechts auf der Basis der weitgehend aus den Handschriften erschlossenen kanonistischen Literatur des 12. und 13. Jahrhunderts systematisch dar. Dieses opus magnum war eine Pioniertat, deren Bedeutung von den Strafrechtshistorikern lange Zeit nicht erkannt wurde; zum erstenmal wurde die Rolle des kanonischen Rechts für ein zentrales Rechtsgebiet moderner Rechtskulturen umfassend erforscht. Das zweite Hauptwerk, Kuttners 'Repertorium', gehört seit 1937 zum Reisegepäck aller Handschriftenforscher auf dem Gebiet der klassischen Kanonistik. Auch dieses Buch war eine bahnbrechende Leistung, da es zum erstenmal einen Überblick über die kanonistischen Handschriften Europas aus der Zeit zwischen 1140 und 1234 gab, weitgehend aufgrund eigenen Studiums bei Bibliotheksreisen vor der Zeit der Mikrofilme. Kuttner klassifizierte hier auch im einzelnen die Literaturformen der klassischen Kanonistik und schuf damit die erste genauere Literaturgeschichte des klassischen kanonischen Rechts.

Parallel zu diesen Hauptwerken erschienen bereits während der Dreißiger Jahre zahlreiche Aufsätze, die seit der Übersiedlung nach Amerika teilweise den Umfang von Monographien erreichten. Bei der Fülle der organisatorischen Aufgaben, die Stephan Kuttner nach 1940 zuerst als Herausgeber von 'Traditio' und 'Seminar', später des 'Bulletin of Medieval Canon Law' und schließlich seit 1955 als President des von ihm gegründeten Institute of Medieval Canon Law übernahm, fehlte ihm die Zeit, seine vielen Entdeckungen in unermüdlicher Handschriftenforschung und großen geistesgeschichtlichen Perspektiven zur mittelalterlichen Rechtsgeschichte in einem Gesamtwerk zusammenzufassen. Jedoch lassen sich die Hauptlinien vor allem aufgrund seiner Aufsatzbände verfolgen und seien im folgenden kurz skizziert.

Im Mittelpunkt stehen von Anfang an die Arbeiten zur Quellengeschichte des kanonischen Rechts. Kuttner war davon überzeugt, dass nur auf der Grundlage genauer Erfassung der Quellen und der Literatur des kanonischen Rechts eine wissenschaftliche Darstellung der Institutionengeschichte möglich sei. Er sah die 'äußere Rechtsgeschichte' von Quellen und Literatur im Grunde in der Tradition von Antonio Agustin als untrennbaren Teil der Rechtsgeschichte und wollte die 'distinction chimèrique' von äußerer und innerer Rechtsgeschichte überwinden.

Im Bereich der Quellengeschichte hat er dem Decretum Gratiani seit 1934 zahlreiche Studien gewidmet und zuletzt 1986 die Gratianforschung in einem Artikel zusammengefasst. Auf dem großen Gratiankongress 1952 in Bologna hielt er die Eröffnungsrede; bereits 1948 wies er den Weg zu einer wissenschaftlich befriedigenden Gratianedition. Im einzelnen ist hervorzuheben, dass er als erster die theologischen Vorlagen Gratians genauer bestimmte und in den seit den großen Studien Adam Vetulanis sehr umstrittenen Fragen einer Verwendung des römischen Rechts bei Gratian neue Ergebnisse erzielte. Jahrzehntelang war Kuttner in der Gratianforschung tätig und ermutigte u.a. auch den Verfasser dieser Würdigung. Der kanonistischen Wissenschaft des 12. und frühen 13. Jahrhunderts galten Interesse und Neigung seit der Zeit der Abfassung des 'Repertoriums'. Er hat hier zunächst zahlreiche Werke der Bologneser Kanonistik entdeckt - so u.a. die Glossa Palatina und den Glossenapparat 'Jus naturale'. Eine seiner letzten Studien galt dem Werk des Bologneser Kanonisten Rolandus. Kuttner erfasste als erster die Bedeutung der französischen und rheinischen Kanonistik des 12. Jahrhunderts und edierte zusammen mit Gèrard Fransen ein Hauptwerk dieser Schule, die um 1169 entstandene 'Summa Colonienses'. Er erkannte ferner, dass sich von der französischen Schule im späten 12. Jahrhundert eine spezifisch anglo-normannische Schule unterscheiden lässt, die er zusammen mit Eleanor Rathbone in dem berühmten monographisch breiten Artikel 'Anglo-norman Canonists' zuerst darstellte. Er erfasste im Repertorium und danach in grundlegenden Artikeln bisher kaum beachtete Literaturgattungen, wie die 'Brocarda' und die 'Quaestionen' - auf letzterem Gebiet wurde seine Arbeit später von Gèrard Fransen weitergeführt. Keineswegs vergessen seien auch Kuttners zahlreiche Studien zu Kanonisten des späteren 13. sowie des 14. und 15. Jahrhunderts wie Raymund von Penņafort, Abbas Antiquus, Bernhard von Parma, Johannes Andreae und schließlich Zabarella. Er teilte nicht die von Savigny geprägte und dann auch in der kanonistischen Forschung des 19. Jahrhunderts vertretene Ansicht vom niedrigen Niveau der juristischen Literatur nach 1250, auch wenn er selbst bis zuletzt hauptsächlich die Zeit vor 1234 in der Literaturgeschichte erforschte.

Das ius novum des 12. und 13. Jahrhunderts entwickelte sich hauptsächlich im Dekretalenrecht. Auf diesem Gebiet hat Kuttner schon 1933 eine frühe systematische Dekretalensammlung entdeckt, und später zahlreiche Studien veröffentlicht, nachdem er bereits im 'Repertorium' die Ergebnisse der Dekretalenforschung bis 1937 zusammengefasst hatte. Kuttner löste das Geheimnis des Verfassers der Compilatio IV und analysierte auch als erster die Arbeitsweise des Raymund von Peņafort bei der Redaktion des Liber Extra. Über Jahrzehnte war er vor allem nach dem Tode Walther Holtzmanns auch die erste Autorität in der Dekretalenforschung, die er in Zusammenarbeit mit Christopher und Mary Cheney, Charles Duggan und Stanley Chodorow weiterführte.

Zu Kuttners wichtigsten Publikationen gehören seine Forschungen auf dem Gebiet der Geschichte der konziliaren Gesetzgebung des 13. und 14. Jahrhunderts. Durch genaue Analyse der Redaktion der Konzilscanones konnte er die Rolle der Päpste bei dieser Gesetzgebung zum ersten Mal quellenkritisch erfassen. Hier ist auf seine Arbeiten zum ersten und zweiten Konzil von Lyon und zum Konzil von Vienne zu verweisen. Diese Quellenstudien haben große Bedeutung für die Erfassung der institutionellen Rolle des mittelalterlichen Papsttums und belegen Kuttners These, dass man äußere und innere Rechtsgeschichte nicht trennen könne.

Während Kuttners Publikationen in der ersten Lebenshälfte überwiegend der klassischen Periode des kanonischen Rechts galten, hat er sich nach dem zweiten Weltkrieg auch häufig mit den vorgratianischen Kanonessammlungen und hier vor allem mit Texten der gregorianischen Reformzeit befasst. Er untersuchte die Beziehung des Dictatus Papae zur Kanonistik, bestimmte die Überlieferung der Sammlung des Anselm von Lucca und widmete große Studien dem Verhältnis Papst Urbans II. zur Kanonistik. Auf diesem Gebiet hat er in Robert Somerville einen Schüler und Nachfolger gefunden. Kuttners Interesse an der Quellengeschichte war nicht auf die Kanonistik beschränkt, sondern umfasste auch die Erforschung der Legistik seit seiner großen Rezension des Hauptwerks von Hermann Ulrich Kantorowicz 1940. Bei seinen Handschriftenforschungen entdeckte er vielfach legistische Schriften, die er zum Teil selbst analysierte. Für alle Glossatorenforscher war er während eines halben Jahrhunderts eine führende Autorität.

Schließlich hat Kuttner in seinen institutionen- und begriffsgeschichtlichen Studien auch den Geist des mittelalterlichen kanonischen Rechts in unübertroffener Weise dargestellt. Diese Arbeiten umfassen eine klassische Monographie zum Kardinalskolleg, Studien zum Recht der Heiligsprechung, den Nachweis des Ursprungs des Begriffs des positiven Rechts in der Kanonistik, Stellung und Autorität des Papstes und schließlich die Verwurzelung der kanonistischen Begriffe in der Tradition der Rechtsphilosophie bis zurück zu Platon. Kuttners humanistische Prägung gab ihm die Möglichkeit, den Bogen vom Mittelalter zurück zur Überlieferung der Antike zu schlagen. Sein Begriff von 'Traditio' war nicht exklusiv, sondern sah Verbindungen der Rechtskulturen ohne Leugnung der Dissonanzen. So wurde 'Harmony from Dissonance', wie er eine besonders persönlich geprägte Studie zum klassischen kanonischen Recht nannte, zu einem Leitmotiv seiner wissenschaftlichen Arbeit. Sein wissenschaftliches Werk wird stets Vorbild in der einzigartigen Verbindung seltener Erudition und großer Kombinationsgabe bei dem Detail der Quellenforschung mit der Erschließung geistesgeschichtlicher Perspektiven für das kanonische Recht bleiben.

Bei aller Trauer über den unersetzlichen Verlust ermutigt uns sein Lebenswerk auch zu neuen Anstrengungen in der Erforschung der kirchlichen Rechtsordnung des Mittelalters, die zum Weltkulturerbe zu zählen ist.

Peter Landau

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